Lena Kuhlmann ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt. Lena Kuhlmann arbeitet in einer psychiatrischen Ambulanz und in einer sozialpsychiatrischen Praxis. Gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker veröffentlicht sie zahlreiche Artikel. Als Bloggerin schreibt sie rund um die Psyche und Psychotherapie. BREMER-Autorin Fanny Quest führte mit der Expertin ein exklusives Interview.

BREMER: Wann kann es zum Ungleichgewicht der Psyche kommen?
Lena Kuhlmann: Da gibt leider keine allgemeingültige Antwort. Tiefenpsychologen wie ich, suchen in ihrer therapeutischen Arbeit nach (unbewussten) Konflikten. Ein be­sonderes Augenmerk wird dabei auf die Vergangenheit des Patienten gelegt. Verhaltenstherapeuten dagegen arbeiten mehr im Hier und Jetzt und teilen auch psychische Erkrankungen in funktional und dysfunktional ein. Sie gehen davon aus, dass psychische Symp­tome falsch erlerntes Verhalten sind. Mediziner suchen auf der körperlichen Ebene nach Ursachen. Ein Vitamin-D-Mangel beispielsweise kann mit depressiven Episoden im Zusammenhang stehen. Einigen können sich viele Fachleute immerhin darauf, dass psychische Erkrankungen meist mehrere Ursachen haben. Die Antwort bleibt also ziemlich schwammig und das ist meiner Meinung nach eine Erklärung dafür, warum bei den allermeisten Menschen ohne psychologisches Grundwissen Fragezeichen auftauchen, wenn jemand psychisch erkrankt.

Ab wann merkt man, dass man nicht nur mal schlechte Laune hat, sondern Hilfe braucht?
Der Grat zwischen gesund und krank ist schmal und jeder Mensch und jede psychische Erkrankung ist anders. Erste Anzeichen können verminderter Antrieb, Interessensverlust, ge­drückte Stimmung, Schlafstörungen, sozialer Rückzug oder ständiges Grübeln sein – aber wie immer, ist es schwer, das zu verallgemeinern. Bei Unsicherheiten rate ich dazu, lieber zu früh Hilfe aufzusuchen als zu spät. Die neu eingeführte psychotherapeutische Sprechstunde, die über die kassenärztliche Vereinigung vermittelt wird, ist für eine erste Einschätzung hilfreich: Betroffene bekommen innerhalb von vier Wochen nach Anruf einen Termin bei einem Psychotherapeuten. Dieser ordnet die Symptome ein und gibt eine Empfehlung für das weitere Vorgehen. Das muss nicht immer eine ambulante, teilstationäre oder vollstationäre Therapie sein – manchmal reichen Verlaufstermine und/oder eine medikamentöse Behandlung.

Was kann man Gutes tun für seine Psyche?
Wichtig ist, dass man die eigenen Bedürfnisse im Blick hat und diese berücksichtigt. Das heißt vielleicht auch, dass man lernen muss, ‘Nein’ zu sagen. Ich empfehle, regelmäßig zu prüfen, wie man sich gerade fühlt, zu notieren, was einem Spaß macht, welche Menschen einem guttun. Außerdem hilft es, den Gefühlen Raum zu geben, zum Beispiel durch kreatives Arbeiten, Bewegung oder das Schreiben eines Tagesbuches. Ich bin außerdem ein Fan von Achtsamkeit und Yoga.

Ist die Wahrscheinlichkeit hoch eine Beziehung wie die Eltern zu führen?
Eltern sind Modelle für ihre Kinder, auch was Beziehungen an­geht. Die Bindungstheorie geht außerdem davon aus, dass sich Muster, die Kinder im Zusammenhang mit der Bindungsperson anlegen, in späteren Beziehungen niederschlagen können.

Wie unterschiedlich ist die Vorstellung und Realität vom Psychotherapeuten-Job?
In einer therapeutischen Sitzung bin ich sehr aufmerksam, weil jedes Detail wichtig ist. Die Arbeit ist emotional belastend. Es wird oft unterschätzt, wie hoch der administrative Anteil des Alltags ist. Und dann sind wir Therapeuten auch nicht frei von Sorgen und Problemen, die gehören nur schlicht nicht in die Stunde des Patienten.

Was gefällt dir an deinem Beruf?
Der Beruf ist sehr abwechslungsreich, weil jeder Mensch seine eigene Geschichte mitbringt. Ich habe in der Regel das Gefühl, mit meiner Arbeit etwas Sinnvolles zu tun und helfen zu können. Und dann entwickeln sich die Psychologie und Psychotherapie stetig weiter, da wird es nie langweilig.

Was müsste sich in der Versorgung psychisch Kranker ändern?
Wir brauchen mehr Kassensitze für niedergelassene Psychotherapeuten. Das Gleiche gilt für stationäre Betten oder Termine bei einem Psychiater – da ist meiner Meinung nach überall Bedarf. Gesellschaftlich wäre mehr Offenheit wünschenswert: Psychische Erkrankungen betreffen uns alle und niemand hat eine Garantie dafür, nicht selbst im Laufe des Lebens zu erkranken. Außerdem ist Aufklärung wichtig, zum Beispiel, dahingehend, dass Erkrankungen der Seele nichts mit Charakterschwäche zu tun haben.

Hast du ein Lebensmotto?
Mein ehemaliger Oberarzt, hat ein­mal zu mir gesagt, dass man am Ende meist die Dinge bereut, die man nicht getan hat. Das hat mir oft Mut gemacht, wenn ich neue Wege gegangen bin. Meine Eltern haben immer an mich geglaubt, ganz egal, was ich vorhatte. Davon zerrt man ein Leben lang.

Cover von ‚Psyche? Hat doch jeder! Vom Hin und Her zwischen Herz und Hirn‘

Lena Kuhlmann
Psyche? Hat doch jeder!
Vom Hin und Her zwischen Herz und Hirn

Depressionen, Panikattacken, Essstörungen – psychische Erkrankungen sind uns längst allen ein Begriff. Doch wie entsteht eigentlich ein seelisches Ungleichgewicht? Was ist dann zu tun und was ist das überhaupt genau – diese Psyche? Psychotherapeutin und Bloggerin Lena Kuhlmann räumt auf charmante Art und Weise mit Vorurteilen über psychische Krankheiten auf und berichtet, wie es in psychiatrischen Einrichtungen heute wirklich aussieht. Neben praktischen Tipps, um die Psyche in Schuss zu halten, gibt sie durch persönliche Anekdoten, außerdem einen spannenden Einblick in ihre tägliche Arbeit: Psychotherapeuten können zwar keine Gedanken lesen, aber ihr Job besteht aus weit mehr, als nur auf einem gemütlichen Sessel zu sitzen und ‘Mhm’ zu murmeln.
Eden Books, 16,95€

(Foto: Moritz Tau)

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