Die Diplom-Psychologen Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader beraten in ihrem Büro für Berufsstrategie seit über 40 Jahren Menschen und Organisationen zu typischen Problemen in der Arbeitswelt. Sie blicken auf über 30.000 individuelle Beratungen und 10.000 Workshops zurück. Über ihr neues Buch psychopathischer Chefs führte BREMER-Autorin Fanny Quest mit Jürgen Hesse ein exklusives Interview.

BREMER: Woran erkenne ich einen psychopathischen Chef?

Jürgen Hesse: Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl. Nutzen Sie Ihren Verstand. Menschenkenntnis hilft auch. Sollte es ab und an schlechte Laune oder Ungerechtigkeiten geben, werden Sie nicht gleich denken, dass Sie es mit einem psychopathischen Chef zu tun haben.

Aber wenn sich das Verhalten Ihres Vorgesetzten immer wieder nur mit der Kategorie unmöglich beschreiben lässt und Sie nicht allein mit dieser Beobachtung dastehen, dann wissen Sie, mit wem Sie es zu tun haben. Dazu gehört: schlechtes, autoritäres, aggressives Benehmen oder nicht zuhören können, keine Zeit haben, kein Interesse zeigen oder Unterstützung anbieten, wichtige Informationen vorenthalten, Ober­flächlichkeit, Unsensibilität, Respektlosigkeit, Fehler nicht eingestehen können oder es auf andere abschieben.

Was sind klassische Charakterzüge?

Es gibt 20 Charaktereigenschaften, die von Psychiatern und Psychologen immer wieder erweitert und verfeinert wurden. Nicht alle Charaktermerkmale treten gleichzeitig bei einer Person auf. Das wäre auch gar nicht möglich, denn Psychopathen sind sehr unterschiedlich: von autistisch bis fanatisch, von zurückgezogen bis geltungssüchtig, von selbstunsicher bis extrem von sich überzeugt. Dabei kann ein äußerst gewinnendes, charmantes und scheinbar offen kommunikatives Verhalten ur­plötzlich umschlagen und ab­gelöst werden durch ein zutiefst autoritäres, menschenverachtendes, zerstörerisches Tun, nur um eigene Ziele machtvoll durchzusetzen.

Donald Trump und Wladimir Putin sind politische Cheffiguren, die uns diese widersprüchliche Verhaltensform – umgangssprachlich auch als ‘zwei Gesichter’ oder als ‘Dr. Jekyll und Mr. Hyde’-Syndrom bezeichnet – eindrucksvoll vorgeführt haben.

Verlangt die Rolle ‘Chef’ dieses Verhalten? Oder sind diese Menschen tendenziell schon vorher so?

Gute Frage. Zunächst einmal dazu, ob die Chef-Rolle es verlangt: ein klares NEIN! Wird aber gerne als Rechtfertigung benutzt. Vielleicht ist in uns allen ein Kern von Narzissmus, Egomanie, Perfektionismus etc. Es kommt aber auf die Größe an und ob man diesen ausleben kann. Das ist bei bösartigen Chefs deutlich stärker ausgeprägt und in ihrer Kindheit gab es oftmals Defizite von Seiten der Eltern, so dass sich diese ‘Kinder’ innerlich schützen mussten. Das haben wir in unserem Buch mit Blick auf das, was da in der Kindheit schief gelaufen ist, ausführlich beschrieben. Deshalb ist auch viel an dem lockeren Spruch: Unbeliebte Chefs waren ungeliebte Kinder.

Ist dieses Phänomen eher männlich oder weiblich?

Aktuell eindeutig eher männlich! Denn Frauen können besser Gefühle ihres Gegenübers lesen.

Welchen Einfluss spielt Macht dabei?

Einen ganz wesentlichen! „Macht ist ein größerer Verführer als Geld oder Sex”, wird der bekannte deutsche Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen oft zitiert. Damit befindet er sich im Einklang mit der Einschätzung des ehemaligen US-Präsidenten Abraham Lincoln, der wusste: „Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.”

Können sich solche Chefs eigentlich selbst reflektieren?

Nur sehr selten. Dies ist ja das Problem, ihre große Schwäche. Sie selbst sehen sich als gute, fähige Chefs. Auch dazu gibt es eine wunderbar entlarvende Untersuchung in unserem Buch, fest steht: Je höher der Posten, desto positiver die Selbstwahrnehmung.

Was können Betroffene tun, die unter so einer Führung leiden?

  1. Change it: die Situation verbessern.

Manchmal ist es möglich, das Verhalten des Chefs oder die Form der Zusammenarbeit zu verändern. Ziel ist es, sich von den unangenehmen Aspekten, die die Zusammenarbeit begleiten, zu befreien. Möglich ist dies am ehesten bei weniger toxischen Chefs.

  1. Survive it: sich arrangieren.

Vielleicht schaffen Sie es mithilfe einiger Tricks, Ihren Psycho-Chef zu ertragen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das kann für einen gewissen Zeitraum funktionieren, wenn die Lage zwar schon sehr unangenehm, aber noch nicht ganz unerträglich ist.

  1. Leave it: flüchten.

Bei absolut toxischen Vorgesetzten, echten Psychopathen oder Führungskräften mit massiven Persönlichkeitsstörungen (ab etwa 100 Punkte und mehr in unserem Schnelltest im Buch) empfehlen wir Ihnen erst gar nicht, die Situation noch länger zu ertragen oder gar verändern zu wollen. Die Gefahr, den Kürzeren zu ziehen und noch mehr Leid zu erfahren, ist viel zu groß. Dafür ist Ihre Gesundheit zu kostbar. Der sicherste Weg, einer solchen Situation zu entkommen, ist die Kündigung. Schnellstmöglich!

Gibt es eigentlich immer mehr irre Chefs? Oder scheint dies nur so?

Meine Einschätzung: Sie nehmen zu. Warum? Der Druck wird immer größer, stärker und die Hilflosigkeit, damit angemessen umzugehen, lässt Menschen in Führungspositionen leider häufiger zu eben diesen Mitteln des miesen Umgangs greifen. Auch ein bisschen vergleichbar mit der enthemmten (Wort-)Gewalt im Netz …

Haben Sie einen Wunsch?

Ja, dass dieses Buch Anlass wird, über Mittel und Methoden im Umgang mit ‘Untergebenen’ (ein sehr verräterisches Wort!) also Mitarbeiter.innen neu nachzudenken und eine Kultur des fairen menschlichen Umgangs, gerade in der Arbeitswelt loszutreten (vergleichbar mit der #metoo-Bewegung).

Haben Sie ein Lebensmotto?

„In jedem Menschen ist etwas von allen Menschen” (Lichtenberg). Und noch eins: Wir sind nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere uns haben wollen.

Foto: Jürgen Hesse / Ullstein

FQ

Econ 17,99€

Jürgen Hesse & Hans Christian Schrader
Mein Chef ist irre – Ihrer auch?

Ein Drittel der 45 Millionen lohnabhängigen Beschäftigten leidet täglich unter den geistigen Erkrankungen ihrer Chefs. Sie klagen über psychopathische Vorgesetzte mit (All-)Machtphantasien, die als unerträgliche Willkürherrscher, Mobber, Panikmacher oder Hysteriker Angst verbreiten. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt: Wer eine Führungsposition bekleidet, hat oft übersteigerte Persönlichkeitsmerkmale oder gar Persönlichkeitsstörungen und die Empathie nimmt mit jeder Hierarchieebene ab. Warum und wie kommen diese Menschen auf diese Posten? Was treibt sie zur Macht? Die Psychologen Hesse und Schrader berichten von den Macken der Macher – vom kleinen Schikaneur aus dem Mittelstand bis zum kriminellen CEO eines Weltunternehmens. Eine Chef-Typologie hilft, den eigenen Chef zu analysieren, um dann bereits erfolgreich erprobte Handlungsstrategien anwenden zu können.

 

 

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