Dr. med. Alexander Kugelstadt, gebürtiger Bremer, ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er arbeitete mehrere Jahre in der Inneren Medizin der Berliner Charité und behandelt seit 2011 am bekannten Institut für psychogene Erkrankungen der AOK in Berlin. Er ist zudem Supervisor, Dozent und gibt seit 2015 den Podcast ‘PsychCast’ mit heraus. BREMER-Autorin Fanny Quest führte mit dem in Berlin lebenden Autor ein exklusives Interview.

BREMER: Was macht die psychosomatische Medizin?
Dr. med. Alexander Kugelstadt: Die psychosomatische Medizin ist eine Art Erweiterung der ‘normalen’ Medizin, die unsere Organe behandelt. Sie bezieht neben den messbaren Befunden wie Laborergebnisse oder Röntgenbilder auch unsere jeweilige Art zu leben, wie wir Beziehungen führen und wie wir die Welt – ganz subjektiv – wahrnehmen, mit ein. Das Fachgebiet versucht, den gesamten Menschen zu behandeln und auch die Gedanken und Gefühle wieder in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen. Das wirkt sich unter anderem über das Immun- und Nervensystem positiv auf die Gesundheit aus.

Welche Krankheitsformen gibt es in der Psychosomatik?
Es gibt Erkrankungen, die wie typische organische Erkrankungen auffallen, zum Beispiel durch Schmerzen, Herzrasen oder Übelkeit, aber eigentlich ihren Ursprung in der Psyche haben. Es gibt aber auch starke psychische Reaktionen durch Entzündungen im Körper, Unfälle oder Ähnliches, die vom Körper ausgehen, beispielsweise bei chronischen Erkrankungen. Bei fast allen Krankheiten spielen Körper und Psyche eine gewisse Rolle. Mal lässt sich besser über biologische Methoden wie Medikamente und mal besser über Gespräche und Änderungen in der Lebensführung behandeln.

Welche Rolle spielt die Kindheit in der Psychosomatik?
Unser Umgang mit Gefühlen wird zu großen Teilen in der Kindheit geprägt. Es spielt eine große Rolle, ob wir uns Emotionen wie Angst oder Wut eingestehen können oder das nur über den Körper erleben können. Schwitzen, Schlafstörungen und Luftnot etwa können durch Gefühle ausgelöst werden, auch wenn wir das Gefühl gar nicht bewusst wahrnehmen. Wir haben oft in der Kindheit gelernt, bestimmte Gefühle zu unterdrücken. Die Kindheit ist also der Stoff, aus dem psychosomatische Körperreaktionen gewebt sind.

Was kann der Ursprung eines Symptoms sein?
Oft ist der Ursprung eine alte seelische ‘Wunde’, die durch ein Ereignis oder auch nur einen Gedanken oder eine Phantasie wieder aufreißt und sich in den Körperfunktionen zeigt. Die Psyche kann sich nämlich vor zu viel negativen Gefühlen schützen, die Körperreaktion des Gefühls aber bleibt.

Ab wann zum Therapeuten?
Oft kann der Hausarzt erstmal weiterhelfen. Es müssen unbedingt organische Ursachen, wie  etwa eine Erkrankung der Schilddrüse, eine Blutarmut oder Entzündungen ausgeschlossen werden. Wenn er nichts findet und das eigene Leben beeinträchtigt ist oder eine Verunsicherung da ist, sollte man mit einem Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie darüber sprechen.

Ein Irrglaube im Bereich der Psychosomatik ist, …
dass man entweder körperlich oder psychisch krank ist. In Wirklichkeit gibt es uns nur einmal und Beziehungen und Gedanken werden ständig zu Biologie und körperlich abgespeichert. Umgekehrt werden Gefühle und Gedanken durch elektrische Impulse im Gehirn und Neurotransmitter hervorgerufen. Die Trennung in Körper und Psyche ist eigentlich veraltet.

Psychosomatisch – ein Problem unserer Zeit?
Das gab es schon immer. Verschärft wird es heute, weil uns unsere immer besser und schneller werdende High-Tech-Medizin suggeriert, wir hätten alles im Griff. Im Gegenzug bekommen wir in einer sich ständig beschleunigenden Welt, die sich derzeit zudem noch im Schatten der Corona-Pandemie befindet, im­mer weniger mit, welche Bedürfnisse uns eigentlich gerade umtreiben. Manchmal übergehen wir zu lange, was uns eigentlich wichtig ist, bis sich der Körper irgendwann meldet.

Wie kann man besser mit seinem Körper kommunizieren?
Indem man sich klar macht, dass der Körper uns die ganze Zeit Botschaften sendet und es sich lohnt, mal hinzuhören. Dazu kann es helfen, erstmal die eigene Vermeidungsstrategie zu verstehen: Wie überdecken wir unsere eigenen Gefühle: im Netz surfen, essen, Computer spielen? Wenn wir das begriffen haben, können wir beginnen, schrittweise wieder mehr von uns selbst zuzulassen.

Welchen Einfluss kann Covid-19 auf die Psychosomatik haben?
Die SARS-CoV-2-Pandemie ist ein gutes psychosomatisches Beispiel. Natürlich können wir körperlich von der Infektion betroffen werden, die im schlimmsten Fall körperliche Folgen und übrigens auch psychische Veränderungen nach sich ziehen kann. Aber auch wer von dem Virus nicht infiziert wurde, hat derzeit mit massiven Nachteilen durch die Erkrankung zu kämpfen, die auf sozialer Ebene auf uns einwirkt: Isolation, existentielle Unsicherheit und vielleicht Angst vor einer noch kommenden Ansteckung oder den wirtschaftlichen Folgen. Psychosomatisch betrachtet wirkt diese Pandemie auf uns alle krankheitsförderlich.

Haben Sie einen Wunsch?
Ich wünsche mir, dass wir alle zusammen mehr Spaß an psychosomatischer Gesundheit haben – und diese auch aktiver fördern. Das heißt, dass wir positive Rituale, Wertschätzung und Konstruktivität mehr in den Mittelpunkt unseres Zusammenlebens stellen als Konkurrenz und Spaltung.

Haben Sie ein Lebensmotto?
„When too perfect lieber Gott böse“ von Nam June Paik.

Foto: Fräulein Fotograf 

F.Q.

Dr. med. Alexander Kugelstadt
„Dann ist das wohl psychosomatisch!“

Viele Menschen leiden unter Schmerzen und Krankheiten, für die
kein Arzt eine Ursache finden kann. Nach einer Reihe von Untersuchungen fällt oft das hoffnungsraubende Urteil: „Dann ist das wohl psychosomatisch!“ Die Folge dieser Diagnose sind frustrierte Patienten, die sich jetzt mit ihrem Problem alleine fühlen. So wurde der Begriff „Psychosomatik“ für viele Menschen zum Inbegriff von Ausweglosigkeit. Ganz im Gegensatz dazu steht der ganzheitliche Ansatz der modernen Psychosomatik-Forschung. Sie reduziert den Menschen nicht nur auf sein körperliches Leid, sondern führt Psyche und Körper in der Diagnostik zusammen, um den wirklichen Ursprung des Problems zu finden.
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