Zu Cannes-Premiere von ‘Die fetten Jahre sind vorbei’ trotzte Hans Weingartner einst dem Glamour und fuhr mit seinem klapprigen Campingbus am Roten Teppich vor. Ein altes Wohnmobil vom titelgebenden Typ 303 spielt nun die Hauptrolle in diesem Lovestory-Road-Movie.

Wie gut Plappern auf der Leinwand klappen kann, hat Richard Linklater mit seiner ‘Before Sunrise’-Trilogie bestens bewiesen. Beim Quatschen über Gott und die Welt und die letzten Fragen der Menschheit bleibt natürlich noch genügend Zeit zum Suchen und Finden der Liebe: Slow-Dating auf 2.500 Kilometer quer durch Europa.

Die Biologie-Studentin Jule (Mala Emde) hat gerade keinen ganz so guten Lauf. Sie rasselt trotz leichter Fragen durch die Prüfung. Um einen klaren Kopf zu bekommen, macht sich Jule mit ihrem alten Wohnmobil auf die lange Reise in Richtung Süden. Der Politik-Student Jan (Anton Spieker) hat gleichfalls wenig Grund zum Jubeln. Sein Stipendium wurde abgelehnt. Frustriert beschließt er spontan, endlich seinen leiblichen Vater in Spanien zu besuchen, dessen Existenz ihm erst seit Kurzem bekannt ist. Nach etlichen Absagen auf einer Raststätte, trifft Jan schließlich auf Jule. Die beiden 24-Jährigen sind sich auf Anhieb sympathisch. Ein kleines Missverständnis sorgt jedoch für großen Ärger. Das Schicksal führt die beiden wenig später unter dramatischen Umständen aber wieder zusammen.

Mit Smalltalk-Vorglühen hält sich das diskussionsfreudige Duo nicht lange auf, schnell geht es ans Eingemachte. Vom großen Ganzen im Leben bis zum kleinen Detail in der Liebe. Ob Niedergang der Neandertaler, Siegeszug des Kapitalismus, Zweifel an der Monogamie oder jene entscheidenden drei Sekunden vor dem Kuss – an Themen herrscht auf diesem Trip kein Mangel. „Die Harten in den Garten und die Zarten in den Teich, das sagt schon Darwin“, kommentiert der Jan die Lage der Menschheit. „Wenn nur der Stärkste überlebt, weshalb überlebt dann ein Pfau? Darwin wurde von den Kapitalisten instrumentalisiert“, erwidert die Jule. „Das ganze Leben ist eine Casting-Show“, klagt sie. „Wettbewerb macht Spaß!“, kontert er.

Es ist sichtlich spürbar, welches Vergnügen Weingartner am Verfassen solch witzig nachdenklicher Wortgefechte hatte – gleichsam nebenbei erfindet ‘303’ das Genre der philosophischen Screwball-Comedy.
Für Schauspieler sind solch geschliffenen Dialoge natürlich eine gemähte Wiese. Sie so spontan und natürlich klingen zu lassen, ist freilich das starke Stück, das Mala Emde und Anton Spielker mit so überzeugender Leichtigkeit liefern wie einst Julie Delpy und Ethan Hawke bei ihren ‘Before Sunrise’-Auftritten.
Das gelingt bei Verschwörungstheorien („Das wollen die doch: Unglückliche Menschen konsumieren mehr.“). Bei Beziehungsratschlägen („Dieses Gefühl angekommen zu sein. Daran denke ich, wenn ich verliebt bin.“). Oder bei Geständnissen („Ich bin die Nebelkerzenwerferin.“). Als Sahnehäubchen darf Selbstironie nicht fehlen: Auf ganz große Gedanken folgt die perfekt banale Reaktion: „Da kauf’ ich mir eine ‘Brigitte’, da steht das auch drin!“

So verlässlich der alte Daimler, Baujahr 1980, mit gemächlichem Tempo gen Süden zuckelt, so pannenfrei entwickelt sich der Charme dieses vergnüglich nachdenklichen Roadmovies. Regisseur Weingartner, einst in Wien bei ‘Before Sunrise’ als Produktionsassistent mit dabei, sagt über seine Lovestory „Es ist sozusagen der ‘Anti-Tinder’-Film. Statt drei Sekunden Wisch-und-Weg, die langsame Annäherung zweier Seelen. Zwei Menschen beim sich langsam ineinander Verlieben zuschauen. So wie es früher einmal war.“
Das trifft durchaus den Nerv der Zuschauer. Die erste Fahrprüfung vor Publikum hat ‘303’ auf der Berlinale jedenfalls bestens bestanden.
Dieter Oßwald

D 2018; Regie: Hans Weingartner; Darsteller: Mala Emde, Anton Spieker, Thomas Schmuckert, Steven Lange, Martin Neuhaus, ab 19. Juli im Kino

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