Diesen Blick muss man erst einmal hinbekommen. Panik, Verzweiflung, Liebe, Hoffnung und ein gutes Dutzend weiterer widerstrebender Gefühle liegen in Julia Roberts Augen. Sie spielt Holly, deren ältester Sohn Ben (Lucas Hedges) unangekündigt Heiligabend in der Garagenauffahrt steht.

Es sind nur wenige Sekunden, bis sie sich fängt, auf den Jungen zu rennt und ihn in die Arme schließt. Aber dieser kurze Augenblick lässt erahnen, welche Abgründe sich zwischen Mutter und Sohn in der Vergangenheit aufgetan haben. Ben ist 19, heroinsüchtig und seit 77 Tagen clean. 77 Tage sind eine Menge, aber bei weitem nicht genug, um sich halbwegs sicher durch ein neues Leben ohne Drogen zu bewegen.

Gegen den Rat seines Therapeuten ist Ben aus der Entzugsklinik abgehauen, um Weihnachten bei der Familie zu verbringen. Die Freude ist verhalten. Schwester Ivy (Kathryn Newton) benachrichtigt erst einmal den Stiefvater (Courtney B. Vance), der wenig später im Wohnzimmer steht und Ben zurück in die Klinik bringen will. Aber schließlich siegt die weihnachtliche Barmherzigkeit.

Ben darf 24 Stunden bleiben. Holly macht ihrem Sohn klar, dass sie ihn keine Sekunde aus den Augen lassen wird und versteckt Schmuck und Medikamente. Denn eins hat die Mutter in all den Jahren gelernt: Einem Drogenabhängigen ist nicht zu trauen. Zuhause und in der Stadt, wo Ben über Jahre als Junkie und Dealer gelebt hat, lauern unendlich viele Trigger, die ihn wieder in die Sucht hinein treiben könnten. Das fängt auf dem Dachboden an, wo der Weihnachtsbaumschmuck lagert und Ben früher seinen Stoff versteckt hat. Aber auch eine Fahrt durch den harmlosen Vorort ist für ihn wie ein Gang übers Minenfeld: „Hier habe ich mir eine Spritze gesetzt. … Hier habe ich jemand überfallen“, erklärt er seiner Mutter auf dem Beifahrersitz.

Die Erinnerungen sind überall und die Vergangenheit wird ihn schon bald wieder einholen. Als sie aus der Kirche zurückkommen, ist das Wohnzimmer verwüstet, der Weihnachtsbaum umgekippt und der geliebte Hund der Familie verschwunden. Ben rennt hinaus in die Nacht und will herausfinden, wer den Hund gestohlen hat. Holly folgt ihm und gemeinsam klappern sie die Verdächtigenliste ab. Aber wo anfangen? Es sind so viele, die mit Ben noch eine Rechnung offen haben.

Der Vater, dessen Tochter er angefixt hat, die später an einer Überdosis gestorben ist. Der Geschichtslehrer, der Ben die Schmerzmittel seiner erkrankten Mutter verkauft hat. Der Drogendealer, der seine Schulden eintreiben will. Immer tiefer dringt Holly in das kaputte Leben ihres Sohnes ein. Dass sie ihm trotzdem nicht ihre Zuneigung entziehen kann, ihn gegen seine Selbstvorwürfe verteidigt, zeigt die Blindheit und die Kompromiss­losigkeit ihrer Mutterliebe.

Regisseur Peter Hedges glorifiziert diese bedingungslose Liebe nicht, sondern sucht einen solidarischen, aber auch ambivalenten Blick auf deren Unumstößlichkeit. Im kompakten 24-Stunden-Erzählformat zeigt ‘Ben Is Back’, welch enormes Zerstörungspotenzial Drogenmissbrauch auf die Familienstruktur und die Mutter-Kind-Beziehung hat. Lucas Hedges (‘Manchester By the Sea’) ist herausragend in der Rolle des Süchtigen, der im eigenen Schuld-Narzissmus gefangen ist und gegen machtvolle Dämonen aus der Vergangenheit ankämpfen muss. Für Julia Roberts ist dies die mit Abstand beste Rolle seit ‘Erin Brockovich’, die sie mit enormer Präsenz und beeindruckendem Differenzierungsvermögen ausfüllt.
Martin Schwickert

Drama, USA 2018, R.: Peter Hedges, D.: Julia Roberts, Lucas Hedges, Courtney B. Vance, Filml.: 98 Min., Kinostart: 10. Januar

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