Es ist jetzt schon ein paar Wochen her, dass ein Urteil aus Italien weltweite Empörung verursachte: Ein Richtergremium in Rom hatte den 66-jährigen Hausmeister einer Schule freigesprochen, obwohl dieser eine 17-Jährige sexuell genötigt hatte, indem er ihr seine Hand in die Hose gesteckt, unter ihren Slip gegriffen und sie am Hintern begrapscht hatte. Die Begründung für diesen Freispruch: das Ganze habe weniger als 10 Sekunden gedauert und sei „nur ein Scherz ohne lüsterne Absicht“ gewesen.
Die Staatsanwaltschaft hatte auf eine Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen sexueller Nötigung plädiert. Aufgrund des Freispruchs, zu dem das erkennende Gericht vermutlich gekommen war, nachdem es seine grauen Zellen ebenfalls weniger als 10 Sekunden bemüht hatte, verließ der Täter den Gerichtssaal als freier Mann. Anzumerken ist hier, dass dieses Urteil nicht etwa das irrtümliche Machwerk nur eines einzigen Richters ist, nein, es wurde durch eine Strafkammer gefällt, der mehrere Richter angehören. Innerhalb kürzester Zeit gingen Millionen von Protestaktionen in den sozialen Medien viral – besonders unter dem Hashtag ‘10 secondi’ machten die Menschen ihrer Empörung Luft – 10 Sekunden lang läuft dabei eine Stoppuhr, während Männer und Frauen ihren Intimbereich berühren, um zu veranschaulichen, wie quälend lang eine Zeitspanne von 10 Sekunden sein kann.
Und jetzt? Was passiert jetzt?
Zu lesen ist nach wie vor nur von dem Urteil und den entsprechenden Hashtags auf Instagram und TikTok. Unter ferner liefen erfährt man in einer Randnotiz, dass es „als gesichert“ gelte, dass die Staatsanwaltschaft Berufung gegen dieses Urteil einlege, zumal es ja in der Öffentlichkeit solch heftige Proteste hervorgerufen habe. Kein Pressesprecher des Gerichts meldet sich zu Wort, bei der Staatsanwaltschaft schweigt man und offenbar meinen auch die italienischen Politiker, besseres zu tun zu haben, als sich dieses rechtsprechenden Abgrunds in Rom anzunehmen.
Mir schossen in diesem Zusammenhang sofort folgende sonst von wütenden Fußballfans gesungenen Zeilen in den Kopf: „Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht, fahr Bus und Bahn, fahr Bus und Bahn…“ Verstehen Sie mich nicht falsch – jegliche Form der Selbstjustiz ist in meinen Augen eine zutiefst zu verachtende, nicht zu duldende Handlung, aber ich vermute mal, dass das Verursachen eines vom Kotflügel bis zum Heck reichenden Kratzers im Lack mit Sicherheit auch keine 10 Sekunden in Anspruch nehmen dürfte. Da müsste man als Angeklagter in Rom wohl ebenfalls darauf vertrauen können, aufgrund der kurzen Dauer dieser Aktion freigesprochen zu werden. Auch ein mit ordentlich Schmackes ausgeführter Fußtritt in die jeweiligen Gemächte der professionellen Rechtsbrecher – äh – Rechtsprecher dürfte direkt zum Freispruch führen, zumal dann, wenn jener Tritt „nur ein Scherz ohne lüsterne Absicht“ gewesen ist.
Ich kenne das italienische Rechtssystem nicht, würde aber wirklich gern wissen, was die erkennenden Richter dazu bewogen hat, dieses absurde Urteil unter Einbeziehung der skurrilen Zeitkomponente dahinzukonstruieren. Manche Straftatbestände sehen Mindeststrafen vor, vielleicht erschien den Richtern die Verhängung dieser Mindeststrafe zu hoch und deshalb entschieden sie sich für den Freispruch – allerdings bin ich mir sehr sicher, dass es in diesem Fall die Möglichkeit gegeben hätte, ein angemessenes Urteil zu fällen, das sich in einer Spanne zwischen oberhalb eines Freispruchs und den von der Staatsanwaltschaft geforderten dreieinhalb Jahren Haftstrafe bewegt.
Die von diesem Richterspruch ausgehende Signalwirkung ist strenggenommen folgendes: „Tu alles, was dir in den Sinn kommt, aber denk’ immer dran: auf gar keinen Fall länger als 10 Sekunden, dann passiert dir nix.“ Hier kommt der Punkt, wo sich mir, die bislang keinen tieferen Sinn in solchen Plattformen wie Instagram und TikTok gesehen hat, die Daseinsberechtigung dieser Formate erschließt – ohne die Protestaktionen dort hätte weder die Weltöffentlichkeit davon erfahren noch wäre es fraglich gewesen, ob eine Berufungsinstanz noch einmal über die Sache verhandelt hätte. Der gesunde Menschenverstand, der den am Urteil beteiligten Richtern der 5. Strafkammer in Rom offenbar abhanden gekommen ist, hat sich auf Social Media wiedergefunden.
Und wenn Sie sich nun die Frage stellen, ob ein solches oder ein ähnliches Urteil auch hier bei uns gefällt werden könnte, dann gebe ich zu Bedenken, dass es immerhin bis zum Jahr 2016 gedauert hat, bis das Sexualstrafrecht in Deutschland deutlich verschärft wurde und dass allein schon die Formulierung des ersten Absatzes von § 177 StGB, der sexuelle Handlungen unter Strafe stellt, „die gegen den erkennbaren Willen einer Person an dieser vorgenommen werden“ einen erheblichen Interpretationsspielraum eröffnet – nämlich dann etwa, wenn der oder die Betroffene von dem Übergriff derart paralysiert in eine Schockstarre verfällt, dass er oder sie noch nicht einmal mehr ein „Nein“ über die Lippen zu bringen vermag und der Täter oder später sein Verteidiger meint, hierin eine „mutmaßliche Einwilligung“ erkennen zu können.
Regina Gross