Es ist noch gar nicht lange her, da verstarb mein Vater. Obwohl er alt war und ich seit einigen Jahrzehnten erwachsen, fühlte ich mich durch dieses Faktum, das mich fortan zur Vollwaisin macht, so hilflos wie ein verlassenes Kind. Umso erstaunlicher fand ich einige Reaktionen meiner Mitmenschen.
Es ist schon bemerkenswert, was der Tod auslöst. Nachdem das, wovor ich in den letzten Jahren die allergrößte Angst hatte, schließlich eingetreten war, durchflutete mich in dem Schockzustand nach der Todesnachricht eine eigenartige Ruhe.
Mein Vater, den in der vergangenen Zeit nicht nur die Leiden des Alters, sondern auch ein paar Krankheiten geplagt hatten, war bei sich zuhause gestorben. Als er nach dem Essen seinen leeren Teller vom Wohnzimmer zurückbringen wollte in die Küche, ereilte ihn der Tod.
Er strahlte eine friedliche Ruhe aus, wie er so da lag. So, wie er auf mich zeitlebens geborgene Ruhe und Gelassenheit ausgestrahlt hatte, tat er das auch jetzt. Nur war er jetzt tot. Das Grausame, das ich gemeinhin mit dem Tod assoziiere, war wider Erwarten nicht vorhanden.
Das strömte dann aber direkt von den Lebenden auf mich ein, holte mich jäh aus meinem schockbedingten Ruhezustand heraus und ein ums andere Mal hinein in eine Situation, die in mir nur bestürzte Verwunderung hervorrief. „An Ihrer Stelle würde ich jetzt gleich den Bestatter anrufen, damit er nicht über Nacht hier liegen bleibt. Draußen ist es immernoch warm. Sonst kommen Sie heute Nacht gar nicht in den Schlaf. Sie wollen ja sicher auch nicht hierbleiben“, war der schnelle Rat der Ärztin, die die Todesbescheinigung ausstellte, bevor sie unmittelbar danach wieder verschwand. An Schlaf war für mich in dieser und in den nächsten Nächten ohnehin nicht zu denken. So richtig konnte ich ihre Logik, warum jetzt alles so flugs gehen sollte, nicht verstehen.
Ich musste mich erst einmal sammeln. Dazu brauchte ich die Nacht. Meinem Vater legte ich ein Kissen unter den Kopf und deckte ihn zu, damit er nicht fror.
„Wir kommen, wann immer es Ihnen passt“, sagte der Undertaker, den ich am nächsten Morgen anrief. Diese lieben Menschen vom Beerdigungsinstitut gaben mir auch im Weiteren zu verstehen, dass alles genau so gemacht wird, wie mein verstorbener Vater und ich uns das vorgestellt haben. Das beruhigte mich ungemein.
Zum Schaudern brachte mich kurz darauf allerdings die „Beileidsbekundung“ eines Nachbarn meines Vaters – gehört hatte ich von diesem Spruch schon mal, ich bin aber in keiner Weise davon ausgegangen, dass nur irgendein Mensch, der bei klarem Verstand ist, ihn tatsächlich auch verwendet: „Na, hat er es endlich geschafft?“
Situationsunangemessen und übergriffig. Punkt.
Was ich auch hören musste, war: „Es ist besser für ihn so.“
Situationsunangemessen und übergriffig. Punkt.
Wieder andere konnten offenbar ihre schamlose Neugier nicht unter Kontrolle bekommen und wollten nur wissen: „Was passiert jetzt mit dem Haus?“
Situationsunangemessen und übergriffig. Punkt.
Allenfalls das Angebot, mir beim Aufräumen und dem damit einhergehenden körperlich anstrengenden Geschufte jederzeit gern behilflich zu sein, hätte diese Frage im Nachgang noch relativieren können. Öfter hörte ich auch die Bemerkung:„Dann muss ja jetzt der Garten nicht mehr gemacht werden.“
Einfach nur dumm. Punkt.
Es ist mein Vater, der gestorben ist – der Garten lebt noch und die Pflanzen wachsen weiter.
Wieder andere zogen sich zurück oder hielten sich fern.
Ich hätte schreien können und wild um mich schlagen. Doch die Trauer erschöpfte mich so nachhaltig, dass ich dazu nicht imstande war.
„Das Leben ist für die Lebenden“, heißt es. Und dass der Tod darin für viele möglichst keine Rolle spielen darf und wenn überhaupt, dann nur in einem achtlos dahergesagten Spruch, musste ich schmerzlich durch die geschilderten Reaktionen meiner Mitmenschen erfahren. Vielleicht ist das nur menschlich – allzu menschlich.
Aber der Tod trifft uns irgendwann alle, Freunde. Irgendwann kommt er. Das ist sicher.
Und ich habe jetzt eine lange ‘Don’t’-Liste mit Dingen, die ich definitiv nicht sagen oder tun werde, wenn der Tod bei Freunden, Verwandten und Bekannten wieder zuschlägt. Ich hoffe, ich kann da sein, physisch und mental, so wie meine liebevollen Begleiter, die immer wieder anrufen, schreiben, vorbeikommen und nachhaken, auch auf die Gefahr hin, dass es nervt. So wie mein bester Freund aus Kindertagen, den ich über zwanzig Jahre nicht gesehen hatte und der mich anrief, nachdem er die Annonce in der Zeitung gelesen hatte: „Ich mochte Deinen Vater sehr, er war ein wunderbarer Mensch. Im Dezember heirate ich und ich möchte, dass Du kommst.“ – Das werde ich!
Die Liebe endet nie.
Regina Gross