Aufgrund meiner Rückenschmerzen empfahl mir mein Orthopäde Akupunktur. Ich willigte ein. Hätte ich vorher gewusst, dass mir diese Termine fünf Wochen am Stück je zwei Nachmittage die Woche zerschießen, wäre meine Entscheidung anders ausgefallen. Ich fluchte laut, als ich den Terminzettel sah – aber mit dem, was ich dann erlebte, könnte ich gesprächstechnisch Abende füllen.

Da ich – wie ein Freund von mir zu sagen pflegt – im „Outback“ von Bremen wohne und die Arztpraxis sich mitten in der City befindet, war ich gezwungen, mich nach getaner Arbeit flugs ans Steuer zu setzen, um die Termine auch pünktlich wahrnehmen zu können. Da ich außerdem aufgrund meiner schwedischen Herkunft „auf langen Strecken zuhause“ bin und es mir zutiefst zuwider ist, Geld dafür zu zahlen, dass ich mein Auto irgendwo abstelle (was in meinen Augen einer der Hauptgründe ist, weshalb der Bremer City die kaufkräftige Kundschaft ausgeht, aber das nur nebenbei…), stellte ich mein rollendes Gefährt also in geraumer Entfernung zur Praxis ab und ging die restlichen vier Kilometer dorthin zu Fuß.

Die Wegstrecke wurde spannender als alles, was Netflix zu bieten hat.

Kaum war ich ein paar Meter gegangen, als ich fast über einen Karton stolperte – zwei Gläser offenbar selbstgemachte Marmelade befanden sich da drin – zum Mitnehmen. Marmelade ist nicht so meins, deshalb ließ ich sie stehen, aber ich musste schon lachen, als der beginnende Film in meinem Kopfkino sich ausmalte, was wohl wäre, wenn irgendso ein Scherzbold die Gläser mit ein bisschen Rizinusöl versetzt hätte. Kurze Zeit später entdeckte ich schon die nächste Kiste – da hatte ein gutmeinender Mensch sich überlegt, dass es keine schlechte Idee sei, seine Mitmenschen mit den Resten seiner Hausapotheke zu beglücken. Die Kiste war offenbar heiß begehrt, etliche blieben dort stehen und als ich dort ankam, war nur noch eine halbe Flasche Baldrian übrig, bei der ich mich fragte, wer die wohl mitnehmen würde. Dann kam das bisher Skurrilste, was ich bislang in diesen ‘Mitnehmkartons’ gesehen hatte – zwei Satisfyer und ein paar ausgediente Stützstrümpfe – hier wäre ich gern länger stehen geblieben, einfach nur, um herauszufinden, wer das wohl mitnimmt…

Als ich noch so am Sinnieren war, lief mir die Affäre einer Nachbarin über den Weg – mitsamt Nachbarin in eng umschlungener und mehr als eindeutiger Pose. Bis zu diesem Zeitpunkt wussten weder ich noch ihr Mann, noch sonst irgendjemand von diesem kleinen pikanten Detail in ihrem Leben und ich schwor auch direkt, dass ich auf gar keinen Fall, nein, unter keinen Umständen auch nur einer Menschenseele etwas sagen würde, was ich bis jetzt auch nicht getan habe und auch nicht tun werde – also, Sie verstehen schon – ‘Schreiben’ ist ja nicht ‘Sagen’. Nun denn, sei’s drum, sie befindet sich damit in bester Gesellschaft, wenn man der Statistik Glauben schenken darf – ungefähr ein Drittel der Menschheit soll fremdgehen, Frauen sogar häufiger als Männer, hörthört.

Aber nur mal so am Rande und rein pragmatisch gesehen ist das ja Stress pur – erfordert das Ganze doch ein ungeheures Quantum an logistischer Leistung – allein schon das Organisieren von entsprechenden Zeitfenstern und Aufsuchen von Örtlichkeiten, an denen einen möglichst keiner kennt – alles nur, damit einem trotz minutiöser Planung schließlich die Nachbarin über den Weg läuft und das Ganze in der Zeitung breit tritt, eieiei, nee, für mich wär das nix. Weil ich aber noch einiges an Metern vor mir hatte, verabschiedete ich mich freundlich von den beiden – nicht ohne ihr den Tipp zu geben, dass nur ein paar Meter von uns entfernt diese Kiste mit der fast noch vollen Baldrian-Flasche steht – nur für den Fall, dass sie etwas bräuchte, um ihre Nerven ein wenig zu beruhigen. Man hilft sich ja schließlich aus unter Nachbarn.

Nachdem ich die Hälfte der Strecke zur Praxis hinter mir hatte, wurde ich wieder zum Stehenbleiben genötigt. Dieses Mal war es eine riesige Muschelschnecke, die jemand nicht mehr haben wollte. Sie wissen schon, diese gefühlt zwei Kilo schweren Schönheiten, die in der Karibik zuhause sind und bei denen man das schönste Meeresrauschen überhaupt hört und sich direkt an den Strand beamt, wenn man sie sich ans Ohr hält. Diesen verwaisten Meeresbewohner musste ich einfach mitnehmen, zumal er dafür sorgte, dass ich den Rest des Weges vom Straßenlärm überhaupt nichts mehr mitbekam, weil ich mit dem Kopf an der Muschel hing und von weit entfernten Ständen träumte.

Wer mich dann leider jäh aus meinen Träumen riss, war der Orthopäde, der mich fragte, wo ich denn so lange gesteckt hätte. Das konnte ich ihm während der kurzen Dauer der Akupunktursitzung schlecht beantworten. „Auf einer langen Wegstrecke jenseits von Gut und Böse“, sagte ich nur, bevor er die Nadeln in meinen Körper setzte.

Regina Gross

Wie Sie wissen, schreibe ich hier jeden Monat Geschichten.  Diese sind frei erfunden und etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen nicht gewollt und rein zufällig.

Sollten Sie sich dennoch hier wiedererkennen, zögern Sie nicht, mich anzusprechen.

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