Dr. Reinhard K. Sprenger, 69 Jahre alt, ist promovierter Philosoph. Zudem hat er Psychologie, Betriebswirtschaft, Geschichte und Sport studiert. Er ist einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Vordenker zu allen Themen rund um Management und Führung im deutschsprachigen Raum. Gerne provoziert Sprenger durch die Unabhängigkeit seiner Gedanken und irritiert durch die Direktheit, in der er sie formuliert. Er ist Vater von vier Kindern und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich und Santa Fe (USA). BREMER-Autorin Fanny Quest führte ein exklusives Interview über sein neues Buch.

BREMER: Welche Herausforderungen ergeben sich in der Elternrolle?

Sprenger: Viele Eltern laufen Gefahr, sich ausschließlich an den Bedürfnissen des Kindes auszurichten. Oft verlagern sich auch die emotionalen Bedürfnisse der Eltern vom Partner weg und hin zum Kind. Man kann jedoch nicht alle Emotionen dem Kind widmen und dann von einer Paar-Beziehung erwarten, dass sie einen durchs Leben trägt. Und dann sind dann ja auch noch unsere eigenen Bedürfnisse als Individuen. Insgesamt scheint es vor allem Müttern schwer zu fallen, ihre eigenen Bedürfnisse zu benennen und durchzusetzen. Erst über Jahre lernen sie zu erkennen, dass sich in ihrer Erschöpfung unbefriedigte Bedürfnisse artikulieren. Wir müssen also lernen zu balancieren. Balance jedoch ist eine Illusion.

Was sind häufige Fehler die Eltern machen?

Sich selbst als Paar und als Individuen zu vernachlässigen rächt sich nicht nur für das Paar, sondern auf für das Kind. Wenn überdies ständig die Frage an uns nagt «Machen wir es richtig?», dann ist der Eltern-Burnout vorprogrammiert. Aber jedes Kind hat ein Recht auf glückliche Eltern. Das Elternwohl muss vor dem Kindeswohl rangieren, wenn wir unsere Elternrolle verantwortungsvoll spielen wollen.

Gibt es überhaupt „die richtige“ Erziehungsform?

Nein. Ein «richtiges» Erziehungsverhalten träumt von Ursache-Wirkungs-Ketten nach dem Motto «Wenn wir so und so erziehen, kommt ein gelungenes Kind dabei heraus». Das ist naiv. Wenn wir einmal extremes Fehlverhalten von Eltern ausschließen, dann gibt es nur ein Erziehungsverhalten, das zu uns als Eltern passt. Wir sind nicht auf der Welt, um bei unseren Kindern einen Persönlichkeitswettbewerb zu gewinnen.

Sind Eltern die besten Freunde ihrer Kinder? Oder wie würden Sie die Rolle umschreiben?

Wir sind und bleiben Vater und Mutter. Das ist Ungleichheit – lebenslang. Und diese Ungleichheit darf nicht verschwimmen. Warum? Freunde haben keinen Erziehungsauftrag. Eltern schon. Und dieser Erziehungsauftrag repräsentiert die Herkunft – die ja nicht Geltung beansprucht, weil sie richtig ist, sondern weil wir ohne sie nicht auskommen. Menschen sind auf Wurzeln und Traditionen angewiesen. Als Eltern verkörpern wir dieses Herkommen für unsere Kinder. Und dieses Herkommen prallt notwendigerweise gegen das Neue, das Zeitgeistige, auch das Modische. Dieser Konflikt ist wertvoll. Wir müssen uns ihm stellen! Kinder haben geradezu ein Recht auf den Widerstand der Eltern. Der Streit, die Abgrenzung, all das ist wichtig für die Hinwendung zum eigenen Weg. Wir müssen uns dem Kind daher als Reibungsfläche zur Verfügung stellen. Wir müssen ihm Gelegenheit bieten, die eigenen Kräfte zu proben, Selbständigkeit und Charakter zu entwickeln. Ein Flugzeug steigt auch nur bei Gegenwind.

Welchen Einfluss hat die eigene Erziehung auf den späteren Erziehungsstil?

Elternschaft ist eine Lebensform, auf die wir insofern vorbereitet wurden, als dass wir meistens unsere eigenen Eltern erlebt haben. Diese Kindheitserfahrungen – oder besser: das, was wir davon erinnern – prägen uns in unserer Rolle als Eltern in zwei Richtungen. Entweder: „Ich will meine Kinder genauso erziehen“. Oder: „Um Gottes willen – so gerade nicht.“ Die Letztere ist häufiger. Die Wahl ist abhängig davon, ob wir uns entschieden haben, unsere Kindheit als glücklich oder als unglücklich zu bewerten. In jedem Fall bleiben wir jedoch gebunden an das Erlebte. Vor allem unter Stress kippen Eltern oft in Erziehungsmuster zurück, unter denen sie selbst als Kind gelitten haben. Manche müssen sich ein Leben lang davon erholen, einmal Kind gewesen zu sein.

Was bedeuten „klare Regeln“ in der Erziehung?

Dass wir Freiheit eingrenzen müssen. Kinder wollen klare Ansagen, Berechenbarkeit – und Eltern, die Sicherheit vermitteln. Die einen Raum definieren, in dem sich das Kind bewegen kann. Denn Regeln geben Orientierung. Sie machen klar, was in Ordnung ist und was nicht. Merkt ein Kind, dass Eltern klare Grenzen setzen, entwickelt es ein Gefühl für eigene Bedürfnisse und Prioritäten. Tun wir das nicht, fühlt sich das Kind nicht gehalten. Es erwirbt keine Grundsicherheit. Wir müssen uns auch trauen, Regeln einzuklagen. „Hey, dein Verhalten ist nicht in Ordnung, wir hatten etwas anderes abgesprochen.“ Es gibt aber auch einen Punkt, an dem Konsequenz in Sturheit umschlägt. Insofern ist es nicht inkonsequent, wenn wir unser Handeln situativ anpassen. Deshalb sollten wir Ausnahmen zulassen. Und klarmachen, dass es Ausnahmen sind.

Wie können Eltern auch noch liebende Paare bleiben neben ihrer Elternrolle?

Kinder kommen. Kinder gehen. Eltern bleiben. Elternjahre sind nicht deckungsgleich mit Kinderjahren. Wir dürfen die radikale Kindzentrierung der Babyjahre nicht als dauerhaft normal betrachten. Das Kind wird älter und muss lernen, die Aufmerksamkeit zu teilen. Ab etwa 18 Monaten beginnt dieser Prozess. Sanfter formuliert: Mit dem Älterwerden des Kindes sollten Paar-Zeit und Ich-Zeit wieder mehr Raum einnehmen. Wir dürfen es nicht verpassen, uns selbst wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Denn das Kind wurde uns als Paar geschenkt. Es ist ein „durchlaufender Posten“. Nach den Elternjahren lassen wir es wieder los. Und auch wenn wir immer Eltern bleiben, so sind doch die Elternjahre im engeren Sinne nur eine begrenzte Phase im Leben von Erwachsenen. Im Idealfall ziehen Kinder weiter, der Partner bleibt. Und mit ihm vielleicht etwas Neues.

Welche drei Tipps würden sie Eltern mit auf den Weg geben?

Nur einen: Die Tage mit Kindern mögen lang sein, die Jahre sind kurz. Geniessen Sie jede Minute!

FQ
Dr. Reinhard K. Sprenger
Cover ‚Elternjahre‘

Reinhard K. Sprenger

Elternjahre

Kinder sollen so früh wie möglich gefördert werden. Väter und Mütter sollen perfekte Eltern und zugleich beste Freunde ihrer Kinder sein. Hinzu kommt die Rolle als Familienmanager und der Beruf. Doch wer sich im Suchen nach der vermeintlich »richtigen« Erziehung verliert, der läuft nicht nur Gefahr, das eigene Wohlergehen zu vernachlässigen, sondern auch das Wohl der Kinder. Sprenger richtet den Fokus auf die Eltern. Sein Ansatz: Nur, wenn wir uns um uns selbst sorgen, können wir auch gut für unsere Kinder sorgen. Sein Buch stellt die wichtigsten Fragen, die das Leben mit Kindern aufwirft und hilft dabei, Antworten zu finden, mit denen wir uns und unseren Kindern das Familienleben leichter machen. DVA Verlag 25 €

(Foto: Robin Sprenger)

 

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