Nicht genug damit, dass Putins Einmarsch in die Ukraine unsere jahrzehntelang gepflegte Illusion vom Frieden in Europa jäh hat zerplatzen lassen, nein, jetzt wird auch noch der Ausdruck ‚Zeitenwende‘ als Synonym für den russischen Angriffskrieg benutzt und obendrein als ‚Wort des Jahres 2022‘ gekürt. Und welche Zeit wird jetzt mit dem gerade frisch begonnenen 2023 eingeläutet?
„Der Beginn einer neuen Ära“ heißt es ziemlich pathetisch, wenn man nach der Bedeutung dieses Begriffes sucht oder auch „der Anfang der christlichen Zeitrechnung“. Verbunden mit einer Zeitenwende ist immer eine grundlegende Veränderung des bislang gewohnten Lebens, in aller Regel zum Besseren hin – die Entdeckung des Feuers schenkte uns sonnenunabhängige Wärme und ermöglichte es uns Menschen, unsere Speisen durch Erhitzen keimfrei zu verzehren, die Erfindung des Rades veränderte unsere Transportmöglichkeiten, mit dem Webstuhl erschuf man die Textilindustrie, die Entwicklung des Automobils garantierte ein komfortables Fortkommen, das ‚WWW‘ veränderte grundlegend unsere Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten.
Und jetzt das – ein desaströser Krieg mitten in Europa soll jetzt, qua Definition gesprochen, eine ’neue Ära‘ einläuten?
Eine schöne neue Ära ist das, in der ein Liter Sonnenblumenöl über Monate hinweg plötzlich doppelt so viel kostete, wie der Durchschnittsdeutsche für eine Flasche Wein ausgibt. Eine schöne neue Ära ist das, in der des Deutschen liebstes Mittagessen, die Pasta, ebenfalls mit 100 % Preiserhöhung zu Buche schlägt. Eine schöne neue Ära ist das, in der jeder Zehnte trotz Minustemperaturen im November seine Heizung noch ausgeschaltet ließ.
Absurderweise scheint Putin innerhalb kürzester Zeit zu erreichen, was Umweltaktivisten, FFF-Demonstranten und sogar Klimakleber trotz jahrelangen Einsatzes nicht einmal ansatzweise bewirken konnten – die eklatanten Preissteigerungen seit Kriegsbeginn führen bei vielen von uns zu einem fast ebenso bemerkenswerten Umdenken: Sonnenblumenöl für fünf Euro den Liter hat kein Mensch gekauft, der noch bei einigermaßen klarem Verstand war – und siehe da – das Frittenfett geht mittlerweile wieder für 1,99 über den Ladentisch. Anstatt zwei Euronen für den Liter Benzin an der Tanke zu lassen, schwingen sich jetzt etliche auf den Drahtesel und radeln morgens zur Arbeit. Büros von öffentlichen Arbeitgebern dürfen laut neuer Energieeinsparverordnung nur auf maximal 19 Grad Celsius beheizt werden und die Hände dürfen dort auch nicht mehr mit warmem Wasser gewaschen werden. Zuhause tragen wir jetzt nur noch dicke Wollpullis und für draußen hat uns die Modeindustrie diese schönen neuen ‚Energiesparmäntel‘ beschert, die kurz über dem Knöchel enden. Eingepackt in diese ultralangen Daunenmäntel sehen wir zwar aus wie wandelnde Michelin-Männchen – tragen wir dazu auch noch die ebenfalls äußerst hippen ‚Chunky-Boots‘ mit Sohlen, die die Reifen eines Radladers vor Neid erblassen lassen, sind wir jedoch für die kommenden Schneestürme bestens gerüstet – Straßenräumfahrzeuge brauchen wir nicht mehr – das erledigen wir selbst mit unseren Klamotten.
Jawoll-ja – im Sparen macht uns Deutschen so schnell keiner was vor – das können wir. Dinge schönreden können wir allerdings auch – ein verheerender Krieg mit unzähligen Toten und Verletzten, der eine Erosionskrise in ganz Europa nach sich zieht: „Zeitenwende“. 100 Milliarden Euro zusätzliche Staatsschulden für die Aufrüstung der Bundeswehr: „Sondervermögen“.
Mit der „Zeitenwende“ kommt die Energiewende schneller als gedacht. Wir schonen unsere Ressourcen, wo wir nur können. Ehrlicherweise tun wir’s aktuell zwar nicht fürs Klima, sondern eher für den eigenen Geldbeutel – aber den ein oder anderen positiven Mitnahmeeffekt für die Umwelt dürfte die ganze Energieeinsparerei wohl mit sich bringen am Ende des Tages. Und wem haben wir das alles zu verdanken? Naaaaaa – diese kleine rhetorische Frage wird doch wohl noch erlaubt sein…
Mein mittlerweile vor Galgenhumor und Zynismus triefendes geistiges Auge sieht schon die nächste Schlagzeile im kommenden Jahr vor sich:
„Zeitenwende 2023: Wladimir Putin erhält das Umweltzeichen Blauer Engel – für sein ‚Lebenswerk’“
Regina Gross
(Foto: Christoph Becker)